Das besondere Kunstwerk Teil 2: Pilgerampulle

Pilgerampulle (Bildmitte), Palästina, frühbyzantinisch, 7. Jh. | Blei mit hohem Zinngehalt, in zwei Hälften mit Reliefdarstellungen gegossen und verlötet, Ausbruch im Zentrum der Rückseite, Lederband | H. 6,1 cm, B. 4,3 cm, T. 1,4 cm | München, Sammlung Christian Schmidt, 1723

 

Memoria – die Kraft der Erinnerung und des Gedenkens

Thietmars Chronik verkörpert in einzigartiger Weise den christlichen Geist und die Bedeutung der Memoria, also das Gedenken an die Verstorbenen im Gebet. Dieses Bedürfnis bildete einen grundlegenden Wesenszug des mittelalterlichen Weltbildes in den christlichen Gebieten. Bereits zu Lebzeiten war es den Menschen wichtig, Vorkehrungen für ihre spätere Memoria zu treffen. Immer wieder betonte Thietmar deshalb in der Chronik seine eigene Sündhaftigkeit und gestand dem Leser, dass er gegen die Gebote und sittliche Normen verstoßen habe und daher des Gebets bedürfe.
„Seit ich das Hirtenamt führe, habe ich meine Untertanen nur durch Worte, nicht durch mein Beispiel belehrt. Äußerlich erschien ich gut, mein Inneres aber befleckte ich mit schlimmsten Gedanken. […] ich kenne keinen schlechteren Menschen als mich. Ich klage mich so an, damit du (lieber Leser) meine Wunden erkennen, mit der erforderlichen Kur mir beistehen und als mein enger Schicksalsgefährte mir allenthalben so helfen kannst, wie du es dir selbst von anderen wünschest.“

In der Chronik erwähnte Bischof Thietmar zahlreiche Todestage der verstorbenen Großen des Reiches und ergänzte dies noch mit Hinweisen auf den Lebenswandel der Verstorbenen. Stets verband Thietmar diese Nachrichten mit dem Wunsch an den Leser, er möge für die Seelen der Verstorbenen beten.

Die liturgische Memoria war Teil des Gebetsdienstes in Stiften und Klöstern ebenso wie an Pfarrkirchen oder Kapellen. Durch die Nennung der Verstorbenen während der Messe sowie das Gebet oder die Fürbitte bei den Heiligen blieben die Verstorbenen unter den Lebenden präsent. Ihr Sündenmaß konnte so gemildert und die Hoffnung auf den Himmel genährt werden.

Die Stiftung eines Altars oder sogar eines ganzen Klosters garantierte die Ausübung des Gebetsgedenkens des Stifters. Für die regelmäßige Abhaltung des liturgischen Gedenkens wurden sogenannte Necrologien bzw. Kalendare angelegt, die die Namen der Verstorbenen enthielten.

In seiner Chronik berichtet Thietmar von Hidda, der Mutter des Kölner Erzbischofs Gero, die eine Pilgerreise nach Jerusalem unternahm. Auf dem Rückweg starb sie tragischer Weise – nicht jedoch, ohne ihren Begleiterinnen zuvor die Bitte an ihren Sohn auszurichten, für sie in der Kirche der Heiligen Cäcilie in Köln einen Altar erbauen zu lassen, um damit für ihr Totengedenken zu sorgen.
„Die fromme Mutter des Kölner Erzbischofs Gero, Hidda, wallfahrte nach Jerusalem, um dort zu beten. Als sie dort erkrankte, trug sie ihren Begleiterinnen folgende Botschaft auf: »Wenn meine Seele den Wohnort ihres langen Pilgerlebens verlässt, übergebt meinen Leib alsbald der Mutter Erde und bringt meinem Sohne Gero sofort die Nachricht, damit er der fernen Mutter auf Erden nicht die Ehren verweigere, deren mich der gütige Gott im Himmel gewürdigt hat; in der Kirche der hl. Cäcilie soll er mir einen Altar errichten.« Diesem Befehl nachkommend, begruben dann ihre treuen Dienerinnen die selig verschiedene Herrin, kehrten sogleich heim und entrannen dadurch, ohne es zu ahnen, nahendem Unheil. Denn damals eroberten die Sarazenen Jerusalem und ließen den Besiegten nichts. Die Dienerinnen kamen also nach Köln und berichteten alles dem Erzbischof. Er empfing sie voller Güte, dankte Gott und erfüllte ihre gerechte Bitte.“

Exemplarisch für diesen Auszug aus der Thietmar-Chronik wird in der Ausstellung eine Pilgerampulle aus dem 7. Jahrhundert aus einer Münchner Sammlung gezeigt.
Auf ihrer Vorderseite ist die Kreuzigung Christi zu sehen. Das Geschehen ereignet sich auf dem Golgatahügel, der durch drei Erhebungen angedeutet ist. Christus ist ganzfigurig wiedergegeben. Sein Kopf wird von einem Heiligenschein mit eingezeichnetem Kreuz, einem sogenannten Kreuznimbus, hinterfangen. Am Fuß des Kreuzes würfeln zwei Soldaten um Christi Kleider. Von der Komposition her entsprechen ihnen am oberen Ende des Kreuzes die Symbole für Sonne und Mond.
Um dieses Bild verläuft eine griechische Inschrift, die übersetzt bedeutet: „Öl vom Holz des Lebens von den heiligen Stätten Christi.“ Mit dem Holz des Lebens ist das Kreuz Christi gemeint, mit dem das in der Ampulle einst enthaltene Öl in Kontakt gekommen war. Nach dem Glauben spätantiker Pilger wurde es dadurch mit der schützenden Wirkung und der heilenden Kraft des Kreuzes gesegnet.

Auf der Rückseite ist die Auferstehungsszene mit zwei Frauen und einem Engel am leeren Grab Christi dargestellt. Die Frauen kommen von links, die vordere schwingt ein Räuchergefäß in der erhobenen rechten Hand. Der Engel sitzt rechts vom Grabbau. Sein Kopf ist durch Korrosion zerstört. Nur sein Heiligenschein und das Ende seines Botenstabes sind noch zu sehen. Die Grabkapelle hat im unteren Teil zwei gitterartige Flügel, die rautenförmig gemustert sind, und wird im Giebel von einer großen Muschel geschmückt und von einem Kreuz bekrönt. Darüber spannt sich die griechische Botschaft, auf die der Engel mit ausgestrecktem rechten Arm, von dem nur noch die Hand vorhanden ist, hinweist: Der Herr ist auferstanden.

Wer sich das Stück anschauen möchte, besucht die Ausstellung „Thietmars Welt. Ein Merseburger Bischof schreibt Geschichte“. Sie ist noch bis zum 4. November geöffnet. Zahlreiche Angebote wie Vorträge oder Sonderführungen bringen die Inhalte auf vielfältige Weise näher.